Sei stark und diszipliniert
Ich war ungefähr 14 Jahre alt und saß oft auf der Auswechselbank, während meine Mannschaft Fußball spielte. Ich war ein übergewichtiger Junge, sehr unbeweglich und langsam. Deshalb durfte ich selten auf das Spielfeld.
Damals dachte ich, dass es zwei Arten von Jungen gibt: Die Talentierten, die gut Fußball spielen können, so wie die Jungs auf dem Spielfeld. Die weniger begabten, so wie mich, die auf der Bank sitzen und darauf warten, endlich spielen zu dürfen. Niemand hat mir damals gesagt, dass man sich durch Training verbessern kann. Niemand hat mir erklärt, dass man sogar ein sehr guter Fußballspieler werden kann, wenn man es nur will. Allein die Willenskraft reicht aus, um der Beste zu werden.
Glücklicherweise gab es damals noch keine Smartphones, die einen ständig von wichtigen Dingen im Leben ablenken. Aber es gab das Fernsehen, das ebenfalls viel Ablenkung bot. Da ich nicht wusste, dass auch ich etwas tun kann, um ein guter Fußballspieler zu werden, verbrachte ich den Großteil meiner Zeit vor dem Fernseher.
Hatte ich damals wirklich keine Willenskraft
Heute bin ich im Leben viel weitergekommen. Das liegt nicht daran, dass ich besonders viel Disziplin oder Willenskraft habe, sondern daran, dass ich erkannt habe, dass mehr als nur Disziplin notwendig ist.
Eine Zeit lang wollte ich abnehmen und zwang mich zu einer Diät. Ich war auch erfolgreich und verlor sehr schnell über 15 Kilogramm. Leider hielt dieser Erfolg nur kurz an. Bereits nach einem Jahr waren die Kilos wieder zurück. Lag es nur an meiner Disziplin? War ich eine Zeit lang diszipliniert und danach nicht mehr? Warum gab es zuerst einen Aufstieg und dann einen schnellen Abstieg?
Heute möchte ich auf zwei Bücher hinweisen, die diesen Zustand verständlicher machen und zeigen, dass Willenskraft allein nicht ausreicht. Das erste Buch ist „Die Kunst sich nicht ablenken zu lassen“ von Nir Eyal, und das zweite „Abgelenkt“ von Johann Hari. Diese beiden Bücher zeigen, wie ich meine mentale Energie richtig einsetzen kann und was die Probleme sind, wenn man sich im Leben nicht auf das Wichtige fokussieren kann.
Der Teufelskreis aus Disziplin und Frustration
Ich habe es also geschafft 15 Kilogramm abzunehmen. Doch nach einem Jahr war ich wieder genau dort, wo ich mit meiner Diät begonnen hatte. Anfangs war ich sehr motiviert. Ich interessiere mich sehr für meine Gesundheit und wollte mich im Frühling schön anziehen. Die Motivation war stark.
Das Abnehmen verlief problemlos. Ich ernährte mich gesund und nahm regelmäßig meine Vitamine und Mineralien ein, wodurch ich mich körperlich sehr gut fühlte. Doch etwa ein halbes Jahr später bemerkte ich, dass meine Motivation nachließ. Meine negativen Gefühle und Gedanken kehrten zurück. Die Angst zu Scheitern aufgrund meiner Blindheit war wieder da. Ich fühlte mich allein und setzte mich unter enormen Druck, was zu Stress führte. Gedanken wie „Du schaffst das als Blinder nicht“ belasteten mich zusätzlich. Emotional und mental war ich eingeschränkt.
Diese negativen Zustände führten dazu, dass ich meinen Lebenssinn aus den Augen verlor wodurch ich mich noch negativer fühlte.
Ich hatte Gefühle wie Angst, Frustration und Lustlosigkeit. Meine Gedanken verstärkten diese Gefühle, und ich fühlte mich in einer Überlebenszone gefangen. Ich begann wieder mehr zu essen, weil es mir danach war. Nach einem deftigen Gericht fühlte ich mich für kurze Zeit gut. Ein leckerer Kuchen gab mir eine innere Ruhe, wenn auch nur vorübergehend.
Irgendwann stellte ich mich auf die Waage, weil meine Kinder unbedingt wissen wollten, wie viel Papa wiegt. Ich war schockiert, als mein Sohn mein Gewicht vorlas. Ich konnte nicht glauben, dass ich wieder genauso viel wog wie vor einem Jahr. Warum war das passiert?
Ich geriet in eine selbstgeschaffene Folterkammer und quälte mich mit Gedanken wie: „Du bist nicht diszipliniert genug“ und „Du bist schwach und hast keine Willenskraft.“ Diese Gedanken wurden durch Ärger und Wut verstärkt, was den Schmerz noch intensiver machte.
Nach diesem inneren Folterakt bat ich meine Frau, ob sie mir einen leckeren Kuchen backen könnte. Sie zauberte ein köstliches Soufflé mit warmer Schokoladenfüllung. Unglaublich, wie die geschmolzene und warme Schokolade mit dem weichen Teig schmeckte.
Ich stellte fest, dass ich mich nicht mehr auf meine Visionen fokussieren konnte und versuchte mich durch Zucker zu befriedigen.
Den Teufelskreis durch das Aufräumen beseitigen, dann arbeiten
Durch reine Disziplin hätte ich mich immer weiter gequält und dann nach Zucker gesucht. Der Teufelskreis wäre geschlossen und ich hätte nach jedem Aufstieg einen Abstieg erlebt. Es gehört also mehr als nur Disziplin dazu, was durch die folgende Metapher verdeutlicht wird:
Stell dir vor, du musst in einem Zimmer arbeiten, in dem überall Kleidungstücke herumliegen, alte Pizzaschachteln sich auf dem Tisch stapeln und wegen den Resten schrecklich riechen, und der Schreibtisch vor lauter Kaffeetassen unbenutzbar ist. Glaubst du, dass du in solch einem Zimmer erfolgreich arbeiten kannst? Ich glaube nicht wirklich. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass wir in einem ordentlichen Zimmer besser arbeiten können als in einem chaotischen Raum.
Leider versuchen viele von uns, in einem derartigen Chaos zu wachsen und erfolgreich zu werden. Die schlecht riechenden Pizzaschachteln, dreckigen Klamotten und Kaffeetassen stehen symbolisch für unsere negativen Gedanken und Gefühle.
Ich muss also verstehen, dass ich zuerst richtig aufräumen muss, um den Teufelskreis zu durchbrechen, damit ich mich auf meine Arbeit fokussieren kann. Andernfalls werden viele Auslöser existieren, die mich im Teufelskreis festhalten. Wenn ich die Pizzaschachteln nicht beseitige, dann werde ich mich an die Pizzeria erinnern, wie gut es dort ist, und mich danach an den Supermarkt neben der Pizzeria erinnern, wo es immer leckere Angebote gibt. Wodurch ich mich in meinen Gedanken verliere. Dadurch werde ich weder zum Aufräumen noch zur eigentlichen Arbeit kommen. Liegt das Problem also mehr an der Disziplin oder am Aufräumen?
Fühlst Du Dich schlecht, bist Du leichter ablenkbar
Im Buch „Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen“ spricht Nir Eyal einen interessanten Punkt an. Inneres Unbehagen wie Unglücklichsein, Traurigkeit oder Einsamkeit sind Auslöser, die unbewusst zu Ablenkungen führen. Je schlechter wir uns fühlen, desto leichter lassen wir uns ablenken. Wenn es mir schlecht geht, werde ich mich ungesund ernähren, stundenlang Videos anschauen oder von einer Webseite zur nächsten springen. Das liegt daran, dass ich diese negativen Gedanken und Gefühle in mir befriedigen möchte. Dadurch komme ich nicht dazu, etwas zu tun, das für mich gut oder gesund ist, weil ich mich ständig durch die negativen Gefühle und Gedanken ablenken lasse.
Man könnte nun versuchen, die negativen Gefühle und Gedanken zu verdrängen. Das Problem dabei ist, dass diese negativen Gedanken und Gefühle oft unbewusst sind. Wir greifen nicht zur Chipstüte oder zur Pizza, weil wir bewusst wissen, dass es uns schlecht geht. Wir greifen zu Ungesundem, weil irgendetwas in uns negativ gestimmt ist und nach Befriedigung sucht.
So war es auch bei mir nach meiner Diät. Mein Unbehagen, ausgelöst durch meine Blindheit, machte mich traurig und ich suchte ständig nach etwas Leckerem. Dies lenkte mich ständig von meinen Zielen ab.
Können wir etwas dagegen tun? Eyal erklärt, man muss sich die Zeit nehmen, sich selbst zu beobachten, um die negativen Gedanken und Gefühle zu erkennen, welche die Auslöser für Ablenkungen sind. Wenn mir meine Auslöser bewusst sind, kann ich mir Handlungen überlegen, die ich unternehmen kann, um diese Auslöser zu beseitigen.
Es ist auch interessant zu erwähnen, was Johann Hari in seinem Buch „Abgelenkt“ zu diesem Problem sagt. Das Erkennen von Auslösern funktioniert nur, wenn ich mich in einem Zustand befinde, in dem ich den Auslöser beseitigen kann. Habe ich beispielsweise finanzielle Probleme, weil mir gekündigt wurde, macht es keinen Sinn, sich nur auf die negativen Gedanken und Gefühle zu konzentrieren und zu versuchen, diese zu beseitigen. Das wird mir schwerfallen. Besser ist es, sich mit dem finanziellen Problem zu beschäftigen und eine Lösung zu finden.
Auch bei mir macht es keinen Sinn, meine Sorgen, die durch meine Blindheit ausgelöst wurden, zu verdrängen, da meine Blindheit immer existieren wird. Ich habe jedoch einen Weg gefunden mit meiner Blindheit richtig umzugehen. Ich sehe mich nicht als Blinder. Stattdessen sage ich mir, dass ich die Chance habe, die Welt anders wahrzunehmen. Dadurch sehe ich meine Blindheit als Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen. Natürlich funktioniert das nicht immer perfekt, aber es klappt viel besser als früher. Heute gibt es weniger negative Auslöser, die mich von meinen Visionen ablenken.
Diese Sichtweise hilft mir, mehr Resilienz und Lebenssinn zu entwickeln. Sie gibt mir die Energie, aus meinen Handlungen Kraft zu schöpfen. Hätte ich heute die Chance mit meinem jüngeren Selbst zu sprechen als ich noch Fußball spielte, würde ich mir die Zeit nehmen, um negative Gefühle und Zustände zu beseitigen. Meiner Meinung nach ist das der bessere Weg als nur zu sagen: „Sei diszipliniert und streng dich an!“
Wenn du heute nicht an deinem persönlichen Wachstum oder deiner Gesundheit gearbeitet hast, kannst du dich entweder selbst quälen, weil du nicht genug Disziplin hast oder du nimmst dir die Zeit deine Auslöser zu identifizieren, um dich besser im Leben zu entwickeln.